In Kanada ist es wieder soweit: Das flächenmäßig zweitgrößte Land der Welt ruft seine 29 Millionen Wahlberechtigten an die Urnen – als ob eine neue Parlamentswahl plötzlich alle Probleme in Luft auflösen könnte, die sich in den letzten Jahren so angesammelt haben. Hintergrund der Abstimmung ist unter anderem der massive Druck von außen: Die aggressive Zollpolitik und die ständigen Annexionsdrohungen des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump haben Spuren hinterlassen. Weil Kanada ja bekanntlich höflich, geduldig und traditionsbewusst ist, begegnet es dem geopolitischen Stresstest natürlich auf seine ganz eigene Art – mit demokratischer Routine.
Die politische Ausgangslage könnte spannender kaum sein: In den Umfragen liefern sich die Liberalen des amtierenden Premierministers Mark Carney (60) und die Konservativen unter ihrem Herausforderer Pierre Poilievre (45) ein äußerst enges Rennen. Beide Seiten präsentieren sich als die Retter der kanadischen Identität – die einen etwas mehr mit staatstragender Miene und Klimaschutzparolen, die anderen mit wirtschaftlichem Pragmatismus und einer ordentlichen Portion Amerika-Skepsis.
Premierminister Carney setzt darauf, dass die Kanadier ihm zutrauen, in diesen chaotischen Zeiten weiterhin ruhig den Laden zusammenzuhalten – trotz mancher Enttäuschungen und einer Wirtschaft, die unter internationalen Unsicherheiten leidet. Herausforderer Poilievre dagegen wirbt mit markigen Sprüchen, dem Versprechen auf Steuersenkungen und der Aussicht auf eine Zukunft, in der Kanada seine Interessen mutiger gegenüber den USA verteidigt. Beiden gemeinsam ist die Hoffnung, dass die Wähler ihnen mehr zutrauen als einfach nur eine Regierung im Stand-by-Modus.
Unterdessen dürfte vielen Kanadiern klar sein, dass der Sieger am Ende keine einfache Aufgabe erwartet: Ob Klimapolitik, Handelsbeziehungen, Inflation oder Wohnungsnot – die Liste der Herausforderungen ist lang und die Spielräume bleiben überschaubar. Und dann wären da noch die Erwartungen der jüngeren Generation, die weder Lust auf nostalgische Romantik noch auf zynische Wirtschaftsprogramme hat.
Erste Ergebnisse werden in der Nacht zu Dienstag (MESZ) erwartet. Dann wird sich zeigen, ob die Kanadier den ruhigeren Kurs bevorzugen oder doch lieber frischen Wind ins Parlament bringen wollen. Sicher ist nur eines: Egal wer gewinnt, auch das neue Parlament wird sich mit den alten Problemen herumschlagen müssen – höflich, hartnäckig und natürlich immer ein bisschen gelassener als der laute Nachbar im Süden.