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„2024 war das Jahr der Wahlen – und der Lektionen“: Ein Interview mit Martin Wehmeyer

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20257964 (CC0), Pixabay

Martin Wehmeyer, Politikanalyst und Experte für internationale Beziehungen, spricht im Interview über das Wahljahr 2024, die Bedeutung demokratischer Prozesse und die globalen Herausforderungen, die sich daraus ergeben.

Interviewer: Herr Wehmeyer, 2024 wurde als „das Jahr der Wahlen“ bezeichnet. Mehr als 60 Länder haben ihre Führungen gewählt. Wie bewerten Sie dieses außergewöhnliche Jahr?

Martin Wehmeyer: Es war tatsächlich ein historisches Jahr, das die demokratische Welt in vielerlei Hinsicht geprägt hat. Noch nie zuvor haben so viele Länder in einem einzigen Jahr ihre politischen Führungen gewählt – wir sprechen von fast der Hälfte der Weltbevölkerung. Das zeigt, dass Demokratie auf globaler Ebene zunehmend akzeptiert und praktiziert wird. Doch gleichzeitig wurde auch deutlich, wie fragil demokratische Prozesse sein können, vor allem in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit und geopolitischer Spannungen.

Interviewer: Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für Demokratien in diesem Jahr?

Martin Wehmeyer: Die vielleicht größte Herausforderung ist die Diskrepanz zwischen kurzfristigen Bedürfnissen der Wähler und langfristigen globalen Problemen. In Ländern wie Großbritannien oder den USA hat die Wirtschaft die Wahlentscheidungen dominiert. Themen wie Klimawandel, die langfristig von existenzieller Bedeutung sind, hatten kaum eine Chance, in den Fokus zu rücken. In den USA führte diese Dynamik dazu, dass Donald Trump wiedergewählt wurde, während Joe Biden für wirtschaftliche Probleme abgestraft wurde, die er zum Teil gar nicht allein verantworten konnte.

Interviewer: Apropos Trump – seine Rückkehr ins Weiße Haus ist sicher eines der herausragendsten Ereignisse des Jahres. Was bedeutet das für die USA und die Welt?

Martin Wehmeyer: Trumps Wiederwahl ist ein Wendepunkt. Seine Isolationismus-Strategie, gekoppelt mit seiner Bereitschaft, autoritäre Regime wie das von Wladimir Putin zu legitimieren, stellt nicht nur die transatlantischen Beziehungen auf die Probe, sondern auch die Stabilität der globalen Ordnung. Trump hat bereits angekündigt, den Krieg in der Ukraine „in 24 Stunden“ beenden zu wollen – ein Versprechen, das auf einen möglichen Deal mit Putin hindeutet. Sollte er wirklich bereit sein, Putins illegale Annexion ukrainischer Gebiete anzuerkennen, wäre das ein verheerendes Signal für die Demokratie weltweit.

Interviewer: Lassen Sie uns über Europa sprechen. In Frankreich rief Präsident Emmanuel Macron nach der EU-Parlamentswahl vorgezogene Parlamentswahlen aus. Warum war das so bedeutsam?

Martin Wehmeyer: Macrons Entscheidung war ein riskantes Manöver. Die EU-Parlamentswahl hatte starke Gewinne für rechtspopulistische Parteien gebracht, und Macron wollte verhindern, dass diese Strömungen auch in Frankreich überhandnehmen. Sein Plan ging nur teilweise auf. Zwar konnte er eine rechtspopulistische Mehrheit im Parlament verhindern, doch sein eigenes Lager verlor massiv an Unterstützung. Die politische Landschaft in Frankreich ist nun fragmentierter denn je, und Macrons Position ist geschwächt.

Interessant ist jedoch, dass Macron zeigte, dass Populismus herausgefordert werden kann – zumindest dort, wo die Demokratie stark genug ist, Alternativen zu bieten. Das ist eine wichtige Lehre aus diesem Jahr.

Interviewer: Aber nicht überall verliefen Wahlen so frei und fair wie in Frankreich. Wie bewerten Sie das Wahlergebnis in Russland, wo Wladimir Putin mit 87 % der Stimmen „gewählt“ wurde?

Martin Wehmeyer: Das russische Wahlergebnis ist kein Ausdruck demokratischer Legitimität, sondern eine Farce. Oppositionspolitiker wie Alexej Nawalny werden eingesperrt oder, wie im Fall Nawalny, sterben in Haft. Die Medien sind vollständig unter Putins Kontrolle, und die Wahl war nichts anderes als eine Inszenierung, um seine Macht zu zementieren. Tragischerweise zeigt das, wie Demokratie in ihrer schlimmsten Form missbraucht werden kann, um autoritäre Regime zu legitimieren.

Interviewer: Trotz solcher Rückschläge – gab es auch positive Entwicklungen in diesem Jahr?

Martin Wehmeyer: Absolut. Es ist beeindruckend, dass immer mehr Länder den Wert demokratischer Wahlen erkennen. In Südafrika zum Beispiel verlor die Partei des verstorbenen Nelson Mandela zum ersten Mal ihre Mehrheit, ein klares Zeichen, dass die Wähler mündiger und kritischer werden. Selbst in Ländern wie Syrien, die jahrzehntelang unter autoritärer Herrschaft litten, gibt es erste Anzeichen für einen möglichen demokratischen Wandel. Das zeigt, dass die Idee der Demokratie weiterhin lebendig ist und Hoffnung gibt, auch wenn der Weg oft steinig ist.

Interviewer: Was nehmen Sie aus diesem Wahljahr als wichtigste Lehre mit?

Martin Wehmeyer: Die wichtigste Lehre ist, dass Demokratie kein statisches System ist – sie muss kontinuierlich verteidigt und angepasst werden. 2024 hat uns gezeigt, wie eng die Wahlen in einem Land mit den Entwicklungen in anderen Ländern verbunden sind. Die US-Wahl beeinflusst zum Beispiel die Ukraine-Politik und den globalen Klimaschutz, während populistische Bewegungen in Europa und Asien weltweit Resonanz finden.

Auch wenn Demokratie in vielen Ländern unter Druck steht, hat das Jahr 2024 deutlich gemacht, dass sie nach wie vor das beste Instrument ist, um gesellschaftliche Konflikte friedlich zu lösen und eine gerechtere Welt zu schaffen. Doch dieser Prozess ist weder einfach noch garantiert. Jetzt ist nicht die Zeit, sich zurückzulehnen – vielmehr müssen wir uns aktiv für den Erhalt und die Weiterentwicklung demokratischer Strukturen einsetzen.

Interviewer: Vielen Dank für Ihre Einschätzungen, Herr Wehmeyer.

Martin Wehmeyer: Danke Ihnen. Es war mir eine Freude.